Rehe, Rosen und Zitronen

Von unserem Küchenfenster aus können wir hin und wieder ein Reh beobachten, das sich im Garten unserer Vermieter etwas zugute tut. Bisher fanden wir das immer niedlich und ganz schön. Das Kind wurde gerufen, wir sahen dem Tiere bei seiner Mahlzeit zu und freuten uns. Mit der Freude war es aber schlagartig vorbei, als in unserem eigenen Garten eines Tages alle Rosenknospen abgefressen waren. Das konnte nur das gemeine Reh gewesen sein und fortan begannen auch wir, über die Sicherung der Außengrenzen unserer Parzelle nachzudenken. Fraglich bleibt auch, ob eine weitere Rehsichtung im fremden Garten jemals wieder Freude auslösen wird, oder ob wir eher dem Waidwerk zuneigen werden, um die grimme, zähnefletschende Kreatur ein für allemal zu vertreiben. Man könnte mit den anderen Gartenpächtern eine Miliz bilden, die rund um die Uhr die Gartenanlage bewacht und das Vieh, wenn schon nicht zur Strecke bringt, dann doch wenigstens dorthin zurücktreibt, wo es hergekommen ist. Sollte sich allerdings herausstellen, dass es sich bei dem gesichteten Tier um ein Wildschwein handelt, müsste man ohnehin über ganz andere Maßnahmen nachdenken.
Es liegt aber nicht sehr nahe, ein Reh mit einem Wildschwein zu verwechseln. Bei einem Löwen kann das hingegen leicht passieren, wie man jetzt gesehen hat. Ich frage mich allerdings, warum die Suchaktion abgebrochen wurde, nachdem man sich entschieden hat, dass es sich wohl um ein Wildschwein handelt. Als ich noch durch die Wälder meiner brandenburgischen Heimat streifte, war die Angst vor einem aus dem Unterholz brechenden Wildschwein immer präsent und jeder Baum wurde auf seine Erklimmbarkeit hin abgeschätzt. Mit einem wütenden Wildschwein ist nicht zu spaßen und der einzige Unterschied zu einem Löwen ist wohl, dass Letzterer auch auf Bäume klettern kann. Deswegen alle Schutzvorrichtungen abzubauen und zur Tagesordnung überzugehen finde ich nicht sehr verantwortungsvoll. Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass es sich bei dem gesichteten Tier um ein Reh gehandelt hat, müssten die Maßnahmen aufrecht erhalten werden, wie mein Beispiel oben ja wohl anschaulich genug vor Augen führt.
Meine armen Kinder müssen nun ohne Rosenblüten zwischen Blattwerk, Gras und totem Stein aufwachsen. Unser Garten: Ein Gleichnis für die trost- und blütenlose Welt, in der sie einmal leben werden. Gut, dass wenigstens Gurken und Tomaten noch einigermaßen verbißsicher im Gewächshaus heranreifen. Während ich dies schreibe, erreichen mich Nachrichten, dass auf Twitter ein verwackeltes Video aufgetaucht ist, auf dem in einem Gewächshaus südlich der Hauptstadt eine Zitrone zu sehen ist. Allerdings sei das Video schwarzweiß und unscharf und es könnte sich dabei auch um ein anderes Gewächs handeln. Aber man weiß ja nie…
Veröffentlicht in Weltgeschichte, Garten am 29.07.2023 8:00 Uhr.