Viertel vor sieben

Diesmal war ich nicht nur eine Weile weg. Ich war lange weg. Und ich war ganz weg. „Was kommt nach Lauter?“ fragt mein kleiner Sohn sehr gerne. „Nun“, pflegen wir dann zu antworten, „nach Lauter kommt Schwarzenberg“, denn Lauter heißt der Ort im Erzgebirge, den wir passieren müssen, wollen wir von Aue kommend nach Hause fahren. „Nein“, sagt er dann, „nach lauter kommt leiser!“ Das ist natürlich nicht verkehrt. Aber dann will er wissen, was nach leiser kommt. Es hat eine Weile gedauert und es ist vielleicht auch nicht sehr originell, aber inzwischen hat sich folgender Ablauf entwickelt: nach leiser kommt schneller und nach schneller kommt fest. Nach fest kommt lose und nach lose kommt ab. Nach ab kommt weg und nach weg kommt schließlich - ganz weg.
Das war ich nun also, ganz weg. Aber doch nicht so ganz, denn dieses Wochenende war ich wieder da: In Sankt Marien in Bernau. Nach drei Jahren Corona-Pause durfte wieder musiziert und gesungen werden und das wollten die Lobetaler, die drei Jahre lang auf alle Feste verzichten mussten, mit einem schönen Konzert feiern. Und ich war dazu eingeladen worden. Es war ein kurzer Heimaturlaub während einer langen Wanderschaft. Zu kurz um mehr zu sein, als nur ein Winken. Winken aus dem langsam fahrenden Zug. Aber wir haben einander gesehen und gehört und dies allein schon tat so gut. Mein Nachtquartier bezog ich bei Axel, dem alten Freund, bei dem ich länger als ein Jahr wohnte, gerade als meine Geschichte mit Lobetal vor mehr als zwanzig Jahren begann. Ich schlief in meinem alten Zimmer, im Bad hing immer noch dasselbe Bild an der Wand und auf dem Küchentisch stand eine Kanne Kakao und daneben: meine Tasse. Es war Sonnabend, und es war viertel vor sieben.
Natürlich stimmt das so nicht. Es war dreiviertel acht und es war nicht der Küchentisch, sondern der Kühlschrank. Darin stand auch keine Kanne Kakao sondern zwei Flaschen Hefeweizen. Aber ich dachte: Was können wir unserem Söhnchen in diesen Zeiten besseres schenken, als dieses Gefühl der Geborgenheit eines Zuhauses. Ein Ort, an dem ein bisschen die Zeit stehen bleibt und den er, auch wenn es diesen Ort schon lange nicht mehr gibt, tief in seinem Herzen trägt. Dorthin soll er dann immer zurückkehren und seine Zuflucht finden können, wenn die dunklen Regenwolken aufziehen und die Dämmerung mit ihren Schatten ihn ängstigen will. Davon durfte ich ein Lied singen, in Sankt Marien in Bernau. Und es war Sonnabend.