Ein Kind ist kein Kind

Ich kann mich zwar nicht mehr daran erinnern, aber es muss Zeiten gegeben haben, in denen ich mich abends in mein Bett legte und es erst morgens - wenn auch viel zu früh - wieder verließ. Das ist lange her. Heute kann ich morgens meistens nicht mehr sagen, wie oft ich in der Nacht die Schlafstatt gewechselt habe. Mein Zweieinhalbjähriger ruft nach mir und wie eine geölte Sardine schnelle ich aus meiner Matratzengruft hoch und eile den Flur entlang zu den Gemächern meines Kindes. Im Lichtkegel der Klolampe gegenüber finde ich den Kleinen meist außerhalb seines Bettchens auf dem Fußboden liegend. Ich trage ihn dann wieder in seine Koje und bleibe daneben liegen - bis ich wieder eingeschlafen bin. Dann kann auch das Kind wieder ruhig einschlafen, was mich wieder aufwachen lässt, damit ich mich zum ehelichen Nachtlager zurück schleichen kann, wo meine wunderschöne Frau nicht schläft, sondern sich sorgend und sehnsüchtig meiner wartet. Das lässt sich pro Nacht zwei- bis fünfmal wiederholen. Vor kurzem hat der Junge mal eine Nacht durchgeschlafen. Von drei Uhr an lag ich wach, mit quälenden Bildern davon im Kopf, was mich am Morgen beim Betreten des Zimmers erwarten würde. Erlösung brachte erst der - sehnsüchtig erwartete - Aufschrei des Erwachenden drei Stunden später.
Wie gesagt, ich kann mich nicht mehr daran erinnern und ich vermisse folgerichtig die durchgeschlafenen Nächte auch nicht. Präzise müsste auch eher von „durchgelegenen Nächten“ die Rede sein, nämlich auf ein und derselben Matratze. Es kommt mir sogar fast so vor, als sei mein derzeitiger Nachtschlaf der gesündeste, den ich jemals genossen hätte. Vielleicht trägt die regelmäßige Bewegung beim Wechsel des Nachtlagers zur Hebung der Schlafqualität bei, vielleicht ist aber auch der Kinderzimmerschlaf einfach noch erholsamer als der Büro- oder Kirchenschlaf. Man sagt nicht umsonst, fünf Minuten Kinderzimmerschlaf ersetzen eine Stunde gefühltes Wachliegen. Zwischen drei und fünf Uhr kommt da jetzt einiges zusammen, was mir früher einfach gefehlt hat.
Es kommt im Leben offensichtlich immer mehr darauf an, die Dinge ins richtige Verhältnis zu setzen. Wenn einem als Single der Alltag über den Kopf wächst, kann man das durch den Alltag mit einem Kind wieder relativieren. Wird es mit einem Kind dann zu viel, zaubert die Erinnerung an diese paradiesische Zeit dem Vater von zwei Kindern ein Lächeln ins Gesicht. Und so lächle ich schon jetzt und sage zu meiner wunderbaren Frau: Weißt du schon, wie wir es gutgehabt haben werden, als wir nur ein Kind gehabt haben wollten? „Ich weiß“, sagt meine liebe Frau, während sie ihren schönen runden Bauch streichelt. Und dann lächelt sie auch.
Veröffentlicht in Elternzeit am 26.10.2022 8:55 Uhr.