Homunculus

Bild: www.handfacts.ch
Unser Selbstbild ist eine Sache, wie wir aber für andere Menschen aussehen, ist eine ganz andere. Es ist auch nahezu unmöglich, sich über Selbst- und Fremdbild sinnvoll auszutauschen. Wir werden nicht nur nicht erfahren, wie wir in Wirklichkeit aussehen, sondern auch niemals wissen, was von diesem „realen“ Bild im Kopf eines geliebten Menschen übrig bleibt. Nur manchmal gibt es kleine Hinweise, Zeichen, die man vielleicht deuten kann, wenn man Glück hat. Zum Nikolaus bekam ich nämlich von meiner wundervollen Frau einen neuen Gürtel. Er war wunderschön aber in der Größe derartig sparsam, dass die beiden Enden sich nicht um meine Taille herum zusammenführen ließen.
Erst glaubte ich, die Botschaft verstanden zu haben: Adventszeit ist Fastenzeit. Zu Weihnachten muss der Gürtel passen. („Wir müssen den Gürtel enger schnallen!“ schien mir als Botschaft doch zu naheliegend.) Zum Ausgleich bekam ich aber ein paar Tage später neue Handschuhe, die im Gegensatz zum Gürtel einige Nummern größer gewählt waren. Das passte überhaupt nicht mehr zu meiner Fasten-Hypothese. Die ganze Sache passte aber auch überhaupt nicht zu meiner in solchen Dingen recht gradlinigen Geliebten. Selbst wenn sie der Meinung wäre, ich müsste abnehmen, würde sie es einfach sagen und mir nicht stattdessen zu enge Gürtel schenken. Nein, es musste etwas anderes dahinter stecken. Inzwischen ist mir klar, dass es die Sache mit Selbstbild und Fremdbild ist. Oder eben die Sache mit der Realität.
Der Begriff Homunculus ist vielleicht als Bild eines Menschen mit bestimmten grotesk überdimensionierten Körperteilen bekannt. Zunge, Lippen und Hände sind zum Beispiel riesig. Die Taille ist dagegen winzig. Dieses Bild soll eigentlich die Repräsentation der betreffenden Körperregionen im Gehirn veranschaulichen. Aber ich glaube, dass ich in etwa so für meine arme Frau aussehen muss. Zumindest was Taille und Hände betrifft. Dass sie sich trotzdem in mich verliebt hat und bis heute bei mir geblieben ist, macht sie zu dem besonderen Menschen, der sie nun mal ist. Sie weiß nämlich, dass das, was man sehen kann, am Ende keinen Pfifferling mehr wert ist. Worauf es ankommt, ist aber das, was man nicht sehen kann. Das kann man nur glauben. Und hoffen. Und lieben.
Veröffentlicht am 13.12.2022 20:54 Uhr.