An meiner Seite

Kaputt. Im Eimer. Am Ende. Nichts hat mich in meinem ganzen Leben bisher so nahe an meine Grenzen geführt, wie die Ereignisse der vergangenen zehn Tage. Keine Aufgabe in meiner bisherigen Laufbahn erscheint mir rückblickend nur annähernd so herausfordernd und kräftezehrend wie die Betreuung meines kleinen Kindes während einer vorübergehenden Unpässlichkeit. Das Demütigende daran ist nicht, dass meine großartige und wunderbare Frau solche Phasen im zurückliegenden Jahr absolvierte, ohne auch nur ein Wort darüber zu verlieren und nebenbei noch den Haushalt erledigte, während ich mit der Erzgebirgsbahn spazieren fuhr. Weil ich diese Fähigkeiten bei ihr ahnte, habe ich ihr einen Heiratsantrag gemacht! Nein, das Demütigende daran ist, dass nahezu alle Mütter dieser Welt Tag für Tag klaglos diese Arbeit machen, die sie selbst gar nicht als Arbeit ansehen und an der ich unter großem Wehgeschrei nun beinahe zerbrochen wäre.
Es begann mit Fieber. Dann kamen die roten Punkte. Schließlich verschwand das Fieber wieder, wir frohlockten, aber jetzt ging es erst richtig los. Das Kind schien sich zurückzuentwickeln. Erst wollte er nicht mehr laufen. Dann wollte er nicht mehr essen. Er ließ sich nicht mehr windeln, nicht mehr an-, nicht mehr ausziehen. Ich dachte: Wenn es so weitergeht, muss die Hebamme noch mal kommen. Nun sagt ein fünfzehnmonatiges Kind ja nicht einfach „nein“ oder „stopp“ oder „ich will nicht“, sondern es schreit. Ach was, es brüllt, es schmeißt sich auf die Erde, es tobt, es strampelt, es schlägt um sich. Schließlich wollte er nur noch getragen werden. Aber nicht stehen bleiben! Nach rechts! Nach links! Haaaaalt! Zuuuurüüüüüüüück. Ich musste um den Wohnzimmertisch herumtraben. Ich begann zu galoppieren, um wenigstens kurz die Illusion von Selbstbestimmtheit zu haben. Erst die Ankunft der Königinmutter, ihre liebliche, vertraute Gestalt, der Klang ihrer Stimme, vermochte ihn zu besänftigen und er ließ von mir ab. Mit gebrochenem Rücken niedersinkend hörte auch ich sie und fühlte ihre liebe Hand kühlend auf meiner heißen Stirne: „Ich bin wieder da, mein Geliebter. Ruhe du nun.“ Und sah im Gegenlicht weichgezeichnet Mutter und Sohn mir zulächeln, ihn seine Hand wie segnend nach mir ausstrecken.
Nun kommt meine Frau ja nicht vom Shoppen nach Hause. Sie kommt von ihrer schwierigen Arbeit bei psychisch kranken Menschen und wirft sich sofort wieder in die Bresche, macht den Wocheneinkauf, hängt Wäsche auf und kocht für uns. Das alles macht sie mit links. Auf dem rechten Arm trägt sie dabei das Kind, tröstet es und bringt es in den Schlaf. Dann kommt sie zu mir und wischt meine Tränen ab. Und ich weiß wieder: Ich kann es doch schaffen. Mit ihr an meiner Seite.
Veröffentlicht in Elternzeit am 19.06.2021 4:00 Uhr.