Nichts, das alles ist

Mein Kind weint. Es weint, weil es aufgewacht ist. Es weint, weil es einschlafen soll. Weil wir im Haus bleiben. Weil wir nach draußen gehen. Weil es auf den Arm will. Weil es herunter will. Weil es etwas haben will. Weil es etwas bekommt (das Falsche). Weil es die Hosen voll hat. Weil es gewindelt wird. Sein Weinen macht mich hilflos und ohnmächtig. Ich will, dass es aufhört, aber ich kann es nicht trösten. Ich weine auch. Und ich verzweifle. Aber ich kenne diese Verzweiflung gut. Ich war noch keine zwanzig Jahre alt, da trafen wir uns zum ersten Mal. Ich hatte meinen ordentlich gelernten Beruf bei der Bahn gleich wieder aufgegeben und bei der Kirche als Gehilfe angefangen. Ich dachte, ich gehe einfach weiter in die Junge Gemeinde, so wie vorher auch. Aber auf einmal wollte ich etwas: Etwas bewegen, gestalten, verändern oder auch erhalten. Was auch immer, es funktionierte nicht. Es ging schief. Mir war klar: Das konnte alles nicht klappen, weil ich keine pädagogische Ausbildung hatte.
Also bewarb ich mich und studierte. Ich las und schrieb, ich hörte und ich schaute zu. Dann versuchte ich es wieder. Im Kirchenkreis suchten sie einen, der eine Gruppe nach ihrer Konfirmation weiter begleitet. Ich sprang ein und dachte, ich könnte und wüßte jetzt alles. Und wieder funktionierte es nicht. Wieder dieses Wollen. Und wieder Scheitern und wieder diese Verzweiflung. So ging es immer weiter, bis jetzt. Da dachte ich: Ich werde doch wohl noch ein einzelnes Kind, noch dazu mein eigenes, betreuen und erziehen können! Und wieder die Erkenntnis: Was ich weiß und kann - es zählt nicht mehr. Jetzt und hier zählt nur noch, was ich bin und was ich tue.
Was bin ich also? Ich bin Vollzeit-Papa. Was soll ich tun? Ich soll mein Kind lieben. Wie macht man das? Beginnen wir mit lernen. Ich will lernen, worüber sich mein Kind freut: Über einen Deckel vom Obstglas. Über die Lampe an der Decke. Über die Bäume vor dem Fenster. Über ein Gänseblümchen. Über einen Bagger. Über eine Gießkanne voll Wasser. Über Musik. Über Toastbrot zum Frühstück. Er freut sich, wenn ich singe. Wenn ich mit ihm lache. Wenn ich mit ihm in die Stadt fahre. Wenn ich mit ihm ein Buch anschaue. Er freut sich, wenn ich ganz nah bei ihm bin. Und er freut sich, wenn seine Mama endlich wieder da ist. Und so wird aus meiner Verzweiflung durch seine Freude ganz allmählich meine Freude. Freude über (scheinbar) nichts, das aber alles ist.
Veröffentlicht in Elternzeit am 17.07.2021 4:00 Uhr.