Der zweite Schritt vor dem ersten

Die natürliche Fortbewegungsart des Menschen ist das Laufen auf seinen zwei Beinen. Nicht rennen, sondern gehen, immer mit einem Fuß auf der Erde. Auf diese Weise ging der Mensch von Afrika nach Asien, nach Europa und nach Amerika. Darum ist das Zufußgehen nicht nur eine Fortbewegungsart sondern auch eine Kulturtechnik. Lesen ist einem natürlich als Kulturtechnik geläufiger, wobei das Zeitunglesen hier als Spezialfall des Lesens herhalten soll. Während sich das Zufußgehen nun im Zuge der Mobilitätsentwicklung wegen seiner Langwierigkeit immer mehr ins Kuriose und Außergewöhnliche verlagert, erobert das Lesen und Schreiben im Zuge der Digitalisierung immer neue alltägliche Lebensbereiche. Ich stelle mir gerade vor, wie ich diese atemberaubende Entwicklung irgendwann einmal meinem jetzt eineinhalbjährigen Sohn erkläre, der aus unserem Haushalt keine Zeitungen aus Papier mehr kennt.
Früher, so werde ich vielleicht anfangen, früher bekam man die Zeitung in den Briefkasten oder kaufte sie am Zeitungskiosk. Man hatte dann einen schönen Haufen bedrucktes Papier, das schon am nächsten Tag nichts mehr wert war, weil es dann eine neue Zeitung gab. Dann konnte man mit dem Papier seine Schuhe ausstopfen, wenn sie nass waren, irgendetwas darin einwickeln oder auch ein Feuer im Ofen anzünden. Als ich Kind war, habe ich regelmäßig Altpapier im Handwagen weggefahren, das in einer Nische im Kellergang gesammelt wurde. Zusammen mit leeren Flaschen bekam ich dafür bis zu fünf Mark. Dafür konnte ich zehn Tüten Salmiakpastillen, zwei Schlager Süsstafeln und vier Schrippen kaufen. Später warfen wir Papier und Flaschen dann nur noch in die Papier- und Glascontainer. Natürlich gibt es solche Zeitungen heute immer noch und vielleicht kaufen wir mal eine, damit du es dir besser vorstellen kannst.
Viel besser wäre es natürlich, einen wahrhaftigen antiken Zeitungleser präsentieren zu können, aber wo soll man den hernehmen? Aus einem der Dioramen des Prähistorischen Museums vielleicht? Aber vor dem Zeitunglesen kommt ja bekanntlich das Zufussgehen und so trafen wir uns mit Axel, meinem alten Freund und Bernhard, meinem Freundesfreund am Südhang des Kyffhäusergebirges zum Wandern. Wir nahmen unser Kind mit und wanderten so lange, dass es unterwegs einschlief. Als es wieder aufwachte, wanderten wir immer noch. So weit so gut, nicht anders als beim Autofahren. Das Eigentümliche des Zufussgehens muss also für die Perspektive des Kindes noch differenzierter beschrieben werden. Manchmal muss man den zweiten Schritt vielleicht auch vor dem ersten machen. Und so war es Axel, der bei dem Kinde für die notwendige Anschauung sorgte, als wir ihn mit der voll entfalteten Wochenendausgabe seiner Tageszeitung antrafen: Sieh nur, mein Junge, so hat man früher die Zeitung gelesen!
Veröffentlicht in Elternzeit am 11.09.2021 4:00 Uhr.