Alte Bekannte
Ich schreibe diese Zeilen in den einzig mir verbleibenden zwei Stunden nach Mitternacht, während das Kind eine tiefe Schlafphase hat. Zu allen anderen Zeiten muss ich ihn an meinem Oberkörper tragen und wäre nur in der Lage, beidhändig zu agieren, könnte ich ihn an meine Backe kleben, wie Armin Laschet sein Telefon. Um meinen Rücken zu entlasten, erlaubt er es zu bestimmten Zeiten, dass wir nebeneinander auf dem Bett liegen. Dann steckt er mir Finger in alle Körperöffnungen am Kopf und versucht, mir Zähne aus dem paradontitisch blutenden Zahnfleisch zu brechen, was ihm zweifellos bald gelingen wird. Jedes Spiel muss bis zur Erschöpfung zelebriert werden. Unterbrechungen werden nicht akzeptiert. Verantwortlich für sein leibliches Wohl kann ich nurmehr Mahlzeiten zubereiten, die sich mit einer Hand anfertigen lassen: Haferflocken, Hirse, Couscous, Reis. Ich fürchte um seine Unversehrtheit, denn leicht könnte er mich im Spiel tödlich verletzen und wäre dann allein und unbeaufsichtigt, bis seine arme Mutter endlich heimkehrt. Welch schreckliches Bild böte sich ihr: Ich, verblichen, begraben unter den Trümmern unserer Heimstatt; das verzweifelte Kind, das versucht, mich am Arm unter dem umgestürzten Buffet hervor zu ziehen: Papa! Mitkomm!!
Die Frau, die ich liebe, sagt: „Das sind die Zähne.“ Zweifellos! Bei mir sind es auch die Zähne. Und außerdem noch Rücken, Knie, Darm, Galle und Blutdruck. Ach, meine liebe Frau. Sie muss allein im großen Bett liegen, weil ich noch vor Morgengrauen zum Greinenden eilen muss, um seinen Hunger nach Nähe, Wärme und Geborgenheit mit meiner ganzkörperlichen Zuwendung zu stillen. Warum schaffen wir es nicht, ihn am Tage damit zu sättigen? Am Abend sitzt sie wieder lange allein, während ich lange beim Kinde sitze, das lange nicht einschlafen kann. „Er ist nicht müde genug“, sagt meine schöne Gefährtin. Wohl! Dafür bin ich müde genug für uns drei zusammen.
Aber wenn die Großeltern, Freunde oder Bekannte kommen oder wenn wir mit ihm Besuche machen, dann brilliert er. Er führt Kunststückchen vor, dass alle applaudieren, er rezitiert Gedichte und spricht die schwierigsten Wörter nach. Er ist fröhlich und nimmt kaum noch Notiz von mir. Ich kann den Raum, die Wohnung, das Haus verlassen, er könnte mich im Regen ohne Jacke mit hängenden Schultern fortgehen sehen; es kümmerte ihn nicht. Sobald er jedoch mit mir allein ist, erzwingt er Nähe und Körperkontakt mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote stehen. „Er ist müde“, sagt meine Frau. Und da wären sie also wieder, die drei Geißeln der Menschheit: Die Schlaflosigkeit, die Müdigkeit und die Zähne. Alte Bekannte.
Veröffentlicht in Elternzeit am 06.11.2021 5:00 Uhr.