Keine schlechte Idee

Die Hoffnung, dass Menschen sich gegen Corona impfen lassen, weil sie zu solidarischem Verhalten fähig wären, muss zumindest als kühn bezeichnet werden. Ich sehe es beim Kinde, das aus Solidarität mit dem Vater morgens einfach mal lange schlafen oder zumindest Ruhe halten könnte. Stattdessen quittiert es jede Entfernung von seiner Körperoberfläche mit schrillem Ton. Ich sehe es auch bei mir selbst, der ich aufs Auto fahren ja nicht verzichte, um etwa die Anwohner der Straßen, durch die ich fahre, vor Abgas und Feinstaub zu bewahren oder gar die Umwelt für mein Kind zu erhalten. Wenn ich nicht fahre, dann aus Bequemlichkeit, weil ich lieber zu Hause bleibe. Meine Impfmotivation ist jedenfalls nicht Solidarität, sondern mein Wissen um die eigene Verletzlichkeit. Ich will einfach nicht krank werden. Die Wenigsten aber halten sich selbst für verletzlich, sonst würden sich viel weniger Menschen zum Beispiel freiwillig in ein Auto setzen und mit halsbrecherischen Geschwindigkeiten wenige Zentimeter über dem Asphalt aufeinander zu und aneinander vorbeisausen.
Dieser Tage erzählt man sich freilich eine andere Geschichte, nämlich die vom heiligen Martin, der sich mit einem frierenden Bettler solidarisch erklärt, indem er seinen Mantel mit ihm teilt. Das wäre heute so nicht mehr möglich, denn weder lässt sich aktuelle Oberbekleidung auf eine Art und Weise teilen, dass sie zwei Menschen wärmen könnte, noch hätte man heutzutage ein Schwert dabei. Außerdem sind wir keine Heiligen. Dafür haben wir es geschafft, Not und Elend so fern von uns zu halten, dass wir sie nicht mehr durch eigenen Augenschein zur Kenntnis nehmen müssen. Darum wird es wohl mit der Solidarität nichts werden. Mit der Bratwurst war man da schon eher auf dem richtigen Weg. So hat Helmut Kohl ja seinerzeit die Sachsen rumgekriegt: Oskar Lafontaine hat den Menschen damals die Wahrheit gesagt, nämlich dass die deutsche Einheit einen Preis hat, den alle bezahlen müssen. Helmut Kohl hat Freibier und Würstchen verteilt und blühende Landschaften geweissagt. Der Rest ist Geschichte. Hätten sie also auf die Wurst noch ein Bier draufgelegt - die Sache wäre gelaufen, wie ein Länderspiel.
Daran ist überhaupt nichts Verwerfliches. Seit unser Sohn dahinter gekommen ist, dass er alles, was seine Eltern von ihm wollen, mit einem einfachen „Nein“ weit von sich weisen kann, kommen wir nur noch mit solchen Bestechungsmethoden aus dem Haus. Um des lieben Friedens willen, bleiben wir natürlich auch einfach daheim. Aber wenn es um die Gesundheit geht, müssen wir uns eben etwas einfallen lassen. Bratwurst ist da schon mal keine schlechte Idee.
Veröffentlicht in Elternzeit am 20.11.2021 5:00 Uhr.