Wirklich nicht

Es gibt Menschen, denen sieht man ihre Begabungen und Fähigkeiten nicht gleich auf den ersten Blick an. Wer mich ein bisschen kennt, würde zum Beispiel nicht gleich darauf kommen, dass ich auch handwerklich über bemerkenswertes Fingerspitzengefühl verfüge. Als Kind konnte ich mich stundenlang mit meinen Stabilbaukästen beschäftigen und ich musste sämtliche Immobilien für meine drei Playmobil-Figuren aus Pappe selbst herstellen. So ging ich selbstverständlich und ohne Zögern meiner lieben Frau zur Hand, als die Beleuchtung des filigranen und schon etwas laveden Fenstersterns ausgetauscht werden musste. Die Zacken des Sterns waren irgendwie nur so eingesteckt und fielen auch gerne mal heraus. Ich fertigte eine fachgerechte Verdickung mit Tesakrepp und wollte den Zacken wieder rein drücken. Das hielt das, wie schon gesagt, hochgradig lavede Teil aber nicht aus und - Zack - zerfiel es in seine Einzelteile. Das war ein Unglück und ich war nicht wenig zerknirscht, meiner armen Frau nun Kummer bereitet, statt ihr geholfen zu haben. Auch mein Kind hatte viel Freude an dem Stern gehabt, den er nun vermissen würde. Was sollte das für eine Adventszeit werden, ohne den Stern? Was war also zu tun? Ich steckte mein Kind am nächsten Morgen in den Rucksack und wir machten uns auf den Weg, um in den kleinen Läden der Altstadt nach einem neuen Stern zu suchen.
Aber wer hätte gedacht, dass so ein kleiner Einkaufsbummel doch so unterhaltsam werden könnte? Ich betrat ein Geschäft und die Verkaufskraft zückte ihr Handy, kam auf mich zu und fragte nach meinem Zertifikat. Dass sich noch mal jemand für mein Zertifikat interessiert, bevor es abgelaufen ist! Stolz zeigte ich mein Telefon vor. Nun war es ein bisschen, wie in jenen längst vergangenen Tagen in der Bahn, als ich als einer der ersten mit Handy-Ticket vom Fensterplatz über den Nachbarn hinweg meinen Fahrschein zeigte. Minutenlang versuchte die Zugbegleiterin meinen Code zu scannen, bis es endlich funktionierte. „Gültig“ rief die betagte Verkaufskraft in meinem kleinen Laden nach einer kleinen Ewigkeit. „Gott sei Dank“, sagte ich und wollte mich grade verabschieden, als mir zum Glück noch einfiel, dass ich ja wegen des Sterns gekommen war.
Nun haben wir einen neuen Stern. Aber wie der alte ist er natürlich nicht. Man kann alles ersetzen und vieles kann man neu kaufen. Aber was kaputt gegangen ist, wird davon nicht wieder heil. Beim Windeln wechseln habe ich die Waschschüssel umgeworfen und das Waschwasser verschüttet. Man kriegt es wirklich nicht mehr in die Schüssel zurück. Ein volles Jahr geht wieder zu Ende und ich werde immer älter. Würde ich doch auch klüger! Wenigstens ein bisschen.
Veröffentlicht in Elternzeit, Advent am 04.12.2021 15:45 Uhr.