Ein schwieriges Alter

Unser Kind ist gerade in einer schwierigen Entwicklungsphase. Früh hat er - natürlich durch uns, seine Eltern - die Bedeutung und die Machtpotenz des Wörtchens „Nein“ erfasst. Seit geraumer Zeit benutzt er dieses Wort virtuos und lustvoll. Keine Frage, die er nicht mit „Nein“ beantworten kann: „Wollen wir rausgehen?“ „Nein!“ Das Schlimme ist ja, er sagt nicht nur „Nein!“, er meint es auch so und er sagt auch ungefragt „Nein!“ Ein schwieriges Alter. Dabei ist die Fähigkeit nein zu sagen natürlich unentbehrlich und essentiell für ein selbstbestimmtes Leben in einer Gesellschaft mit freiheitlich demokratischer Grundordnung. In Königs Wusterhausen gehen seit einem Jahr jede Woche hunderte Menschen auf die Straße um „Nein!“ zu sagen. Südlich von Königs Wusterhausen, so sagt man von Berlin aus, beginnt Sachsen, wo es einige Menschen zu geben scheint, die sich mit dem Nein-Sagen nicht länger begnügen wollen. Was ist da los? Ein zweifelhafter Bonner Kinderpsychiater hätte sicher schnell eine Diagnose und die passenden Medikamente zur Hand. Aber was ist es wirklich?
Ich weiß es natürlich nicht. Mir fiel dazu aber ein, dass ich mit 20 Jahren als Bausoldat zur Nationalen Volksarmee der DDR einberufen wurde. Das war ein bisschen Widerstand ohne allzu großes Risiko und fühlte sich nicht sonderlich heldenhaft an. Bausoldaten mussten keinen Eid leisten, sondern ein Gelöbnis ablegen. Ich sprach nicht mit. Das war schon ein bisschen mehr Widerstand, denn es fiel auf und forderte eine Reaktion heraus. Ein Risiko gab es aber immer noch nicht, denn entscheidend war die Teilnahme und nicht das Mitsprechen. Ein paar Monate vor meiner Entlassung im Jahr 1989 verweigerte ich dann jeglichen Dienst, weil ich nicht mehr einsehen konnte, warum wir als Bausoldaten nicht z.B. im Altersheim eingesetzt wurden und stattdessen fegen, Laub harken und Konferenzsäle bohnern mussten, damit die „Säcke“, also die Offiziere, alles schön sauber hatten. Ich bekam Arrest in der Arrestanstalt. Auch dort weigerte ich mich, zu arbeiten. Das nächste Kapitel in dieser Geschichte schien festzustehen: Schwedt, Militärgefängnis. Ich dachte: „Das ist mein Weg. Ich muss ihn gehen.“ Und es fühlte sich gut und richtig an. Zum Glück hatte ich Freunde unter den anderen Bausoldaten, die den Neubrandenburger Pfarrer Paul-Friedrich Martins um Hilfe baten. Martins kam und wartete zwei Stunden am Kontrolldurchlass und durfte dann tatsächlich unter der Aufsicht eines Stabsoffiziers mit mir sprechen. Seitdem weiß ich, wie es sich anfühlt, Widerstand zu leisten. Ich wusste, dass ich recht hatte und alle anderen waren im Unrecht. Aber warum, das war die zentrale Frage von Pfarrer Martins, warum musst du dich dafür ins Unglück stürzen? Um eine reine Weste zu haben? Um nicht zu denen zu gehören? Ist es das wert? Und was würde es bewirken? Nichts und wieder nichts. Mein Widerstand war sinnlos und mein Opfer wäre umsonst gewesen.
Der Knoten platzte und ich wurde ein paar Monate später mit allen anderen entlassen. Ich setzte meine Ausbildung fort und arbeitete auch ein Wochenende im Monat im Altersheim. Das war besser als das Militärgefängnis, wo sie es nicht schätzten, wenn das Bäumchen grad zu stehen und Baum zu werden begann. Ich kann nachvollziehen, wie es sich anfühlt, nein zu sagen. Nur wozu? Zu den Schutzmaßnahmen vor Ansteckung, weil sie unbequem und lästig sind? Zum Virus, weil es nicht existiert, wenn man nicht dran glaubt? Zu den Echsenmenschen, weil sie uns unterdrücken und knechten wollen? Oder doch nur, weil sich Macht einfach besser anfühlt, als Ohnmacht? Ein schwieriges Alter!
Veröffentlicht in Elternzeit, Weltgeschichte am 12.12.2021 12:08 Uhr.