Über das Verschwinden von wichtigen Gegenständen

Alles ist weg. Ich hatte so ein schönes Diktat diktiert und jetzt ist es einfach nicht mehr da. Ich kann jetzt versuchen, den verschwundenen Text mühsam zu rekonstruieren oder gleich ganz neu anfangen. Beides ist schlecht. Es ging jedenfalls um die Zähne. Dass wir ein ganzes Leben lang damit zu tun haben, von der Wiege bis zur Bahre. Dann habe ich seitenlang über die Weddellrobbe geschrieben. Weil sie keine Hände hat, muss sie ihr Luftloch mit den Zähnen eisfrei halten. Wenn die Zähne dann abgenutzt sind, muss die arme Robbe Hungers sterben. Das habe ich natürlich alles viel dramatischer und einfühlsamer geschildert und nun ist eben alles weg. Ich kann mir nicht erklären, wie es dazu kommen konnte. Vielleicht hängt es mit der Tablette zusammen. Gestern Abend hatte ich Zahnschmerzen und habe eine Schmerztablette eingenommen. Nach anderthalb Stunden waren die Schmerzen weg. Vielleicht wirkt die Tablette noch und deswegen ist auch der Text weg. Er kommt wieder, wenn die Schmerzen wiederkommen. Dann könnte ich wieder eine Tablette einnehmen aber dann wäre auch der Text wieder weg.
Es sieht so aus, als wollte mir der Text mit seinem Verschwinden irgendetwas sagen. Er ist ja gewissermaßen eine Sonde, mit der ich mein Innerstes erkunden kann. Vielleicht will er sagen: „Geh doch zum Zahnarzt, wenn du Schmerzen hast.“ Na toll. Das weiß ich selber. Ich war ja gerade beim Zahnarzt und danach bekam ich Schmerzen. Es muss zwischen diesen beiden Ereignissen keinen kausalen Zusammenhang geben. Es wäre aber möglich. Einmal war ich sieben Jahre lang nicht beim Zahnarzt und alles war gut.
Möglicherweise ist aber auch mein Sohn für das Verschwinden des Textes verantwortlich. Er kann so gut wie alles verschwinden lassen. Vielleicht hat er mal wieder das W-LAN abgeschaltet. Das kriegt er schon hin und ich merke es nicht immer gleich. Er kann auch das Telefon klingeln lassen. Das macht er manchmal, wenn ich außerhalb seiner Sichtweite in der Wohnung beschäftigt bin. Statt zu rufen oder mich langwierig zu suchen, lässt er es eben klingeln und freut sich, wenn ich zuverlässig wieder zum Vorschein komme. Aber bevor ich hier noch weiter andere beschuldige, wollen wir lieber annehmen, ich hätte den Text selbst verloren. Er könnte mir aus der Uhr gefallen sein, als wir heute in der Stadt unterwegs waren und bei meinem Zahnarzt vorbeigekommen sind. Möge der ehrliche Finder seine Freude dran haben.
Veröffentlicht in Elternzeit am 15.02.2022 12:55 Uhr.