Liebliches Geläute

Das Glück ist niemals laut oder offensichtlich. Darum wird es leicht übersehen. Aber es kommt immer wieder. Zum Glück.


Es gibt so Tage, da kommt man irgendwie nicht in die Gänge. Man macht und tut aber es geht einfach nicht vorwärts. Dabei ist es doch immer das Gleiche: Frühstücken, waschen, anziehen, rausgehen, Mittag kochen, Mittag essen, Mittagsschlaf. Aber heute ist auch noch rasieren. Das Kind besteht darauf, seinen Milchbart abzurasieren. Aber als der Massagevibrator in sein Gesicht will, macht er einen Rückzieher. Einmal draußen hält es das Kind dann nicht lange in seinem Kinderwagen aus. Er will selber schieben. Dazu fällt mir ein, wie ich auf der Heringsdorfer Seebrücke meiner heutigen Frau einen Herzenswunsch anvertraute: Dass sie es sei, die mich in fernen Tagen einst im Rollstuhl auf diese Brücke schieben möge. Das wünsche ich mir immer noch. Aber ich sehe auch, dass in noch ferneren Tagen, wenn sie es vielleicht nicht mehr vermag, ein anderer diesen Dienst übernehmen kann. Was für ein Glück.

Apropos Glück: Der verschwundene Text ist wieder aufgetaucht. Ich fand ihn im Papierkorb und er war nicht annähernd so inhaltsreich, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Genau genommen war er so wie er war ganz und gar unbrauchbar. Ich hätte ihn komplett neu schreiben müssen, was ich ja dann auch gemacht habe. Weil er weg war. Was er ja nicht war, was aber niemandem etwas genützt hätte, weil er eben unbrauchbar war. Aber ich wiederhole mich. In der Wiederholung liegt ein mächtiger Zauber. Sie ist Segen und Fluch zugleich. Dem Kind hilft sie beim Wachsen, dem Ausgewachsenen tötet sie den Nerv. Noch einmal das Lied und noch einmal und noch einmal. Und wieder und wieder. Noch einmal, dann ist Schluss. Nein, noch einmal. Und noch einmal. 

Wir sind wieder drinnen. Das Kind hat jetzt einen Spinatbart und der Postbote hat die Batterien gebracht, die das Bachbuch wieder zum Klingen bringen. Die endlosen Wiederholungen hatten es verstummen lassen. Jetzt kann der Junge auf der Wiese kann wieder Oboe spielen, wie die Mama. Der Wind frischt auf und der Wetterdienst warnt vor Orkanböen. Das ist der alte Winter. In seiner Schwäche kann er noch mal gefährlich werden. Aber während wir die letzten Kastanien über den Hof rollen lassen, hören wir von irgendwoher liebliches Geläute. Es sind die Schneeglöckchen. Sie sind wieder da. Was für ein Glück. 

Veröffentlicht in Elternzeit am 16.02.2022 12:40 Uhr.

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